Der Tagesspiegel Kultur
28.09.2011 Uhr Von Giannis Makridakis
" In Griechenland ist der Kannibalismus nicht mehr weit"
Der griechische Romancier Giannis Makridakis erläutert wie sein Staat die Bürger ausräubert und Europa seine Haut zu retten versucht.
Vor fünfzig Jahren lebte in dem Haus, in dem ich jetzt wohne, im Dorf Volissós auf Chios, einer Insel gegenüber dem türkischen Izmir am äußersten Rand der EU, ein Mensch, der sehr viele Arbeiten zu verrichten hatte, um zu überleben. Mit der Bestellung der Erde und dem Nießbrauch seines Viehs verschaffte er der Familie die tägliche Nahrung, und zwei, drei Mal im Jahr plante er schon lange im Voraus eine große Reise. Dann belud er zwei Maultiere mit allen möglichen Erzeugnissen, darunter selbst hergestellte Holzkohlen und Raki, stieg auf seinen Esel und machte sich auf den Weg über die Bergpfade bis zur Hauptstadt von Chios, um die Waren zu verkaufen und die Farbe des Geldes zu sehen, das er manchmal benötigte und deshalb beschaffen musste.
Die Zeiten, in denen man unterwegs auf Räuber und Piraten traf, waren unwiderruflich vorbei. Die einzig verbliebene Angst war die vor dem Staat. Holzkohle und Raki waren gewöhnlich schwarz gebrannt, alles in allem zwar bloß ein paar Kilo, aber eben ohne legale Genehmigung, und das war Grund genug, dass dieser Mensch in arge Bedrängnis kommen konnte. Und so vollzog sich der Ritt in die Hauptstadt unter Furcht und Zagen und zahlreichen Vorsichtsmaßnahmen. Wo die Pfade die größeren Straßen kreuzten, lauerten immer wieder Gendarmen und kontrollierten die Körbe, und das einzige Kafenion auf dem neunstündigen Weg, das er ansteuerte, um sich im Sommer ein bisschen zu erfrischen und im Winter ein bisschen aufzuwärmen, wurde häufig von Forstbeamten belagert, die nach illegaler Holzkohle fahndeten.
Wenn die Obrigkeit, sprich Gendarmen und Förster, der Wirtin mit ihrer Völlerei dazwischenkam und im Hinterhalt lag, ging Frau Anna immer in ihre Hütte und hängte ein weißes Laken hinaus, als ob sie Wäsche trocknen wollte; so signalisierte sie den Reisenden – und damit auch meinem –, dass sich der Staat in ihrem Lokal befände, das heißt, seine Räuber und Wegelagerer, und rief sie auf, geduldig zu warten, bis das Laken wieder weg war, oder eine andere Route zu nehmen, einen anderen Pfad zur Hauptstadt, und nicht einmal außen am Kafenion vorbeizureiten.
So war also damals die Arbeit, das war das Leben. Die Mühsal des Lebens war groß, die Gesetzesverstöße klein, und dazu kam ein Staat, der einen unter dem Vorwand dieser kleinen Vergehen täglich bedrohte, die damals eine Riesenbedeutung hatten. Und so war es mit der Reise der Dörfler in die Hauptstadt. Denn weiter reisten sie nicht, es gab dazu keinen Grund. In der Hauptstadt, neun Stunden von ihrem Wohnsitz entfernt, war für sie alles zu finden, auch der Ärger, es kam ja nicht selten vor, dass sie Scherereien hatten. Dass der Staat sie auf frischer Tat ertappte und festnahm und ihnen am Schluss harte Geldstrafen auferlegte, denn das war sein einziges Ziel: Geld einzusammeln. Der Staat, das war also die große Angst, der einzige Schrecken der Route, der letzte Räuberhauptmann.
Heute, ein halbes Jahrhundert danach, hat sich viel verändert. Der derzeitige Bewohner des alten Steinhauses in Volissós auf Chios, also meine Wenigkeit, hat im Alltag ganz andere Annehmlichkeiten. Er hat Strom und Internet, muss nicht zu kleinen Gesetzesverstößen Zuflucht nehmen und illegal Schnaps und Holzkohle herstellen, um zu überleben. Aber auch er bestellt die Erde, um sich mit Nahrung zu versorgen, und er schreibt Bücher, um die Farbe des Geldes zu sehen, das heute absolut unverzichtbar ist. Mit dem Auto erreicht er die Stadt jetzt in einer Stunde, aber die Stadt ist nicht mehr die Hauptstadt. Die Hauptstadt ist wieder neun Stunden weit entfernt (unter den günstigsten Umständen), und er muss zwei Flugzeuge nehmen, um hinzukommen.
Er ist jetzt vierzig Jahre alt, und es hat sich immer noch nicht ergeben, dass er in der Hauptstadt war. Doch jetzt ist die Stunde gekommen. Eines seiner Bücher wird vorgestellt, und dazu hat man ihn eingeladen. Er reist nach Berlin, in die Hauptstadt. Mit den Reisevorbereitungen hat auch er schon fünf Monate vorher begonnen. Wie der frühere Hausbewohner. Er hat Tickets gebucht, Hotels vereinbart und Termine festgelegt. Als er damit fertig war, beruhigte er sich und wartete einfach, bis der Abreisetag kam. Aber auch für ihn ist eine einzige Angst geblieben. Dieselbe alte Angst. Vor dem einzigen Räuberhauptmann, der immer noch lauert, allerdings nicht mehr auf dem Reiseweg, denn die Sicherheitsmaßnahmen in den Flughäfen sind modern und drakonisch, sondern im eigenen Haus. Und wieder einmal hat sich diese permanente und seit einem halben Jahrhundert unveränderte Angst als begründet erwiesen.
Bis der Abfahrtstag da war, ist ihm der Oberräuber schon fünfmal begegnet, der schlemmend im Hinterhalt liegt, und alle fünf Male ist es ihn teuer zu stehen gekommen: Sonderabgaben, Immobiliensteuer (für das alte steinerne Dorfhaus) und schließlich noch drei Tage vor der Abfahrt eine unzumutbare und erpresserisch mit der Stromrechnung gekoppelte Sondersteuer auf Immobilien (ja, für das alte Steinhaus im Dorf), die man zwangsweise zahlen muss, wenn man im nahenden kalten Winter nicht ohne Strom bleiben will. Er hat ja nicht vor, ewig in der Hauptstadt zu bleiben. In Berlin sammelt die Regierung Zahlen, Indizes und statistische Daten und sagt, so viel betragen die Schulden, so viel die Defizite, so viel Prozent das Bruttosozialprodukt, und gibt Anweisungen. Seine Polizisten vollziehen sie aus Angst, die Stelle zu verlieren, und wieder lauern dieselben Typen prassend auf unsere Leben. Mittlerweile sind sie so dreist geworden, dass sie uns sogar mit einer unerhörten Gefühllosigkeit Sozialleistungen vorenthalten. Erneut machen dieselben Leute, die dreißig Jahre lang unser Dorf mit Schulden überhäuft haben, um Politik zu betreiben und Stühle und Posten zu verteilen, genauso weiter wie immer und sorgen für ihre bodenlose Partei, die sie an der Macht hält, und so ist es ein Fass ohne Boden.
Die Dorfleute können unter Mühen hineinwerfen, was sie wollen, es geht alles dahin. Die Schulden wachsen ständig, und die Hauptstadt sammelt die Zahlen und fordert, dass die Börsenindexe wieder ins Gleichgewicht kommen, gibt weiter ihre Anweisungen und stößt Drohungen aus, aber die lokalen Räuber und Wegelagerer prassen mit ihren Kumpanen weiterhin in den Wirtshäusern, greifen sich jeden, der vorbeikommt, setzen ihm das Messer an den Hals und sagen: Her mit dem Geld. Her mit dem Geld für die Schulden, die nie ein Ende finden.
Bis die Hauptstadtregierung eines Tages erkennt, dass sich die Situation ständig verschlechtert, erst ihre eigenen Schäfchen ins Trockene bringt und dann beschließt, die Nabelschnur zu diesem unverbesserlichen Dorf in ihrem Hoheitsgebiet zu kappen und es seinem Schicksal zu überlassen, frisst einer den anderen auf, weil jetzt endgültig alle bettelarm sind, außer den Räubern und ihren Kumpanen, die schon seit Jahren vorgesorgt haben.
In Griechenland ist der Kannibalismus nicht mehr weit, es gibt schon die ersten Anzeichen. Und das wird sich ausbreiten und in ganz Europa eine Kettenreaktion verursachen. In dem Europa, das absolut selbst verantwortlich ist für das, was gerade passiert und noch tragisch bevorsteht. Ein Europa, dessen einzige Ausrichtung seit Jahrzehnten das Geld darstellt. Das eine Krise der Werte und der Moral erlebt, das schon vor langem den Menschen vergessen hat. Das an Zynismus, Gleichgültigkeit und Inhumanität mit dem transatlantischen Modell wetteifert. Ein Europa, das sein Schicksal verdient hat.
Aus dem Griechischen von Birgit Hildebrand. Makridakis liest am heutigen Dienstag um 18 Uhr auf Einladung der Griechischen Kulturstiftung im Europäischen Haus (Unter den Linden 78), der Berliner Vertretung der EU-Kommission, aus seinem Roman „Wintersonne“. Eintritt frei. Anmeldung erforderlich unter: http://bit.ly/oKm9HA
Giannis Makridakis, 40, lebt als Romancier, Historiker und
Publizist auf Chios,
wo er auch geboren wurde. Der studierte Mathematiker zählt zu den beliebtesten Autoren Griechenlands.
Tagesspiegel: Ο κανιβαλισμός δεν είναι μακριά. Του Γιάννη Μακριδάκη
21 Σεπ 2011 | Κρυσταλία Πατούλη tvxs.gr/node/70070